Gerechtigkeit global gedacht

Rede beim Neujahrsempfang der SPD Uhingen am 9. Januar 2022

© Heidi Lorenz

(Es gilt das gesprochene Wort)

Sehr verehrte Damen und Herren,

zunächst einmal ganz herzlichen Dank an euch, Susanne und Michael, für die freundliche Einladung nach Uhingen zu eurem traditionsreichen Neujahrsempfang. Nicht nur ist es in den aktuellen Zeiten grundsätzlich schön, unter Einhaltung der notwendigen Maßnahmen persönlich zusammen zu kommen und sich auszutauschen. Schließlich sind wir alle soziale Wesen. Nein, es freut mich auch im Besonderen, mal wieder in Uhingen und in eurem tollen Uditorium zu sein.

Die heutige Neujahrsansprache ist überschrieben mit “Gerechtigkeit global gedacht“. Nun muss ich gleich zu Beginn sagen, dass sich dieses Thema tatsächlich nur mäßig dazu eignet, zu Beginn des Jahres gute Laune zu versprühen. Wir werden bereits von der allabendlichen Tagesschau daran erinnert, wie ungerecht es doch in vielerlei Hinsicht in Deutschland, an Europas Außengrenzen oder aber auf anderen Kontinenten zugeht. Trotzdem möchte ich in der nächsten knappen halben Stunde mit euch und Ihnen, ein wenig laut darüber nachdenken, warum es gerade vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen so wichtig ist, Fragen globaler Gerechtigkeit ins Zentrum gesellschaftlicher und politischer Debatten zu rücken. Ich werde dabei in der gebotenen Kürze einige globale Gerechtigkeitslücken ansprechen. Zugleich verspreche ich aber, mit einer optimistischen und hoffnungsvollen Note zu enden.

Nun, zunächst zu der Frage, warum ich dieses Thema für sehr zeitgemäß, wenn nicht sogar für drängend halte. Uns allen ist klar: Wir leben in einer interdependenten Welt. Viele soziale, ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen sind über Stadt- und Landesgrenzen, ja kontinent-übergreifend voneinander abhängig und eng miteinander verzahnt.

Um einige Beispiele anzureißen: Die in Stuttgart forcierte Mobilitätswende weg vom Verbrenner hin zu batteriebetriebenen Autos „made in the Länd“ hat etwas mit den politischen Entwicklungen in Kongos südwestlicher Katanga-Provinz zu tun. Warum? Zwei Drittel der weltweiten Cobalt-Vorkommen werden im Kongo abgebaut. Cobalt ist bisher unersetzlicher Halbleiter in der Produktion von Lithium-Ionen Batterien für E-Fahrzeuge. Anderes Beispiel: Ein unkontrollierte Kollaps des riesigen chinesischen Immobilienkonzerns Evergrande hätte potenziell zum Platzen der chinesischen Schuldenblase führen können, was in Windeseile zu massiven Verwerfungen an den globalen Geld- und Kapitalmärkten geführt hätte, mit entsprechenden Auswirkungen auf die weltweite Realwirtschaft und damit auf Arbeitsplätze in Deutschland und anderswo. Und auch auf der persönlichen Ebene sind wir jeden Tag mit der ganzen Welt verbandelt – nicht nur beim Surfen im Internet, nein auch in unserem Konsumverhalten. Unsere Kleidung, viele unserer technischen Geräte und Luxusgüter, wie wir zu Beginn der Pandemie auch schmerzlich gelernt haben auch unsere medizinischen Schutzmasken werden andernorts produziert. Wir sind integriert in und abhängig von globalen Wertschöpfungs- und Lieferketten. Diese Wertschöpfungsketten sind keine abstrakten Gebilde, sondern bestehen aus einer Assemblage unzähliger Menschen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten am An- und Abbau gewisser Rohstoffe sowie an der Fertigung und dem Transport bestimmter Produkte und Güter beteiligt sind.

In dieser hyperglobalisierten Welt, in der wir leben, muss Gerechtigkeit global gedacht werden, weil fast jede unserer Alltagshandlungen wie auch jede politische Entscheidung bei uns sich unmittelbar oder aber zumindest mittelbar auf das Leben jetziger oder künftiger Generationen ganz anderswo auf der Welt auswirken.Gerechtigkeit also global denken. Thematisch ist das hier und heute in gewisser Weise ein Heimspiel. Ich wurde eingeladen vom Ortsverein und der Ratsfraktion der SPD. Die Sozialdemokratie sowohl in Deutschland als auch andernorts war stets eine internationalistische soziale und politische Bewegung. In den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens kämpfte die Sozialdemokratie nicht nur gegen die Ausbeutung der Arbeiterklasse in Deutschland. Nein, Vordenker:innen wie Karl Kautsky oder Rosa Luxemburg war stets klar, dass die Industrialisierung in Europa auf imperialem Expansionismus und auf kolonialer Unterdrückung fußte. Nach dem 2. Weltkrieg waren es oft Vertreter:innen der SPD, die Fragen der globalen Gerechtigkeit und auch der Dekolonialisierung in die deutsche Debatte und später auch in die Regierung trugen. Einen dieser Vorkämpfer globaler Gerechtigkeit erinnern wir alle noch gut: Erhardt Eppler, der Ende 2019 leider verstarb.

Über seinen Weggefährten Willy Brandt, dessen Friedensnobelpreis sich letztes Jahr zum 50. Mal jährte, darf man wohl auch sagen, dass er Gerechtigkeit stets global gedacht hat. Als Altkanzler wechselte Brandt nicht zu Gazprom, sondern wurde 1977 Vorsitzender der so genannten Nord-Südkommission. Die Nord-Südkommission setzte sich zusammen aus Vertreter:innen aus dem Globalen Süden und Norden und befasste sich mit internationalen Entwicklungsfragen mit dem Ziel bestehende Gerechtigkeitslücken zu schließen.

Die Kommission legte 1980 dem damaligen UN-Generalsekretär Kurt Waldheim den so genannten Nord-Süd Bericht vor. Der hatte den Titel „Das Überleben sichern“. In der Einleitung schrieb Willy Brandt damals unter anderem Folgendes. Ich zitiere:

„Den Abstand zwischen „armen“ und „reichen“ Völkern zu verringern, Diskriminierungen abzubauen, Schritt für Schritt die Gleichheit der Lebenschancen herbeizuführen – dies alles entspricht nicht nur dem Streben nach Gerechtigkeit, was allein wichtig genug wäre. Es entspricht auch einem gesunden Eigeninteresse, und zwar nicht nur der armen und ärmsten Länder, sondern ebenso derer, denen es besser geht.“

Leider fanden die zahlreichen Forderungen der Kommission nach einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung, nach politischen Anstrengungen zur Bekämpfung von Armut und Hunger, übrigens auch zum weltweiten Umweltschutz und zur Bekämpfung von Kriegs- und Fluchtursachen wenig politisches Gehör. Der Zeitgeist der Achtziger Jahre stand solchen vermeintlich linken Spinnereien entgegen. Mit Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich und Ronald Reagan in den USA übernahmen neoliberale Denker und Lenkerinnen die Schaltzentralen der Macht. In den folgenden Jahrzehnten nahmen globale Ungleichheiten nicht ab. Ganz im Gegenteil, die globale Gerechtigkeitsschere hat sich seither weiter geöffnet und Wohlstand und Vermögen wurden nicht nur innerhalb unserer westlichen Gesellschaften von unten nach oben, sondern auch weiterhin vom Globalen Süden in den Globalen Norden verteilt.

Mit anderen Worten, die neoliberale Phase der Globalisierung hat unsere Welt noch ungerechter gemacht. Ich möchte Sie nicht mit Zahlen bombardieren. Allerdings helfen sie das Ausmaß globaler Gerechtigkeitslücken zu veranschaulichen. Laut dem Global Wealth Databook von Credit Suisse aus dem Jahr 2021 zum Beispiel besitzen die oberen 1.1% der erwachsenen Weltbevölkerung, das sind alle Individuen, die mehr als eine Millionen US-Dollar besitzen, 45.8% des weltweiten Vermögens. Die unteren 55% der weltweiten Bevölkerung hingegen besitzen gerade einmal 1,3% des weltweiten Vermögens.

Um es ohne Zahlen und provokant zuzuspitzen: Wir hier im Globalen Norden im 3. Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts bejubeln Milliardäre dafür, dass sie Multimillionäre für wenige Stunden in den Weltraum schießen, während es Menschen andernorts weiterhin am Nötigsten mangelt.

Globale Gesundheit

Aber Fragen der globalen Gerechtigkeit drängen sich natürlich nicht nur bei der Verteilung des Vermögens auf. Wie kaum eine zweite Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten hat uns die andauernde Corona-Pandemie globale Gerechtigkeitslücken eindrucksvoll vor Augen geführt.

Da ist zum einen die globale Verteilung – oder besser Nicht-Verteilung – von Vakzinen. Keine Frage, auch in manchen Ländern des Globalen Südens herrscht Impfskepsis. Außerdem sind die logistischen und infrastrukturellen Herausforderungen an flächendeckende Impf-Kampagnen dort ungemein größer. Nichtsdestotrotz, die ungleiche globale Impfverteilung hat einen Hauptgrund, nämlich mangelnde politische Bereitschaft im Globalen Norden, ein zunächst einmal sehr knappes Gut, nämlich Impfstoff, global gerecht zu verteilen. Für mich gehörten der sich bahnbrechende Impfnationalismus und die weiterhin unzureichende Versorgung von Entwicklungsländern mit Impfstoffen zu den moralischen Tiefpunkten der Pandemie.

Man darf an dieser Stelle die EU lobend erwähnen. Wenngleich die Impfbeschaffung anfänglich durchaus holprig anlief, auch aufgrund der Egotouren von Impfnationalisten wie Trump und Johnson, dürfen wir doch froh und stolz sein, dass zumindest innerhalb der EU ein unionsweiter gerechter Verteilungsschlüssel gefunden wurde und auch keine Ausfuhrstopps verhängt wurden, wie dies beispielsweise in den USA zu Beginn der Pandemie der Fall war.

Dennoch es ist beschämend, dass die globale Verteilung von Impfstoffen so langsam anlief und es weiterhin global ein Riesengefälle gibt bei den Impfquoten. Zum Jahreswechsel waren gerade einmal 9% der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent vollständig gegen Covid-19 geimpft. Wie Sie wissen wurden im vergangenen Jahr die Stimmen lauter, die die Aussetzung von Patenten der Impfstoffhersteller forderten, um die Impfstoffproduktion im Globalen Süden zu beschleunigen. Zu diesen Stimmen gehörten selbst der US-Präsident Biden sowie anfänglich die EU-Kommissionpräsidentin von der Leyen – bis diese mutmaßlich von Angela Merkel zur Ordnung gerufen wurde.

Vielleicht sitzen ja einige mit Biontech-Kleinanleger:innen hier im Foyer. Ich möchte euch und Ihnen natürlich nicht zu nahetreten. Dennoch darf man davon ausgehen, dass der Schutz von Kapitalinteressen und die Sicherung des Technologievorsprungs in der MRNA-Forschung, vor allem auch gegenüber Chinas, der Idee wirksame Impfstoffe zu öffentlichen Gütern zu machen im Wege standen. Bei der globalen Verteilung von Impfstoffen darf man jedenfalls die kritische Frage stellen: Wird hier Gerechtigkeit global gedacht?

Der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa würde diese Frage sicherlich mit einem klaren „Nein“ beantworten. Er drückte seine Enttäuschung kürzlich so aus. Ich zitiere:

„Ich bin persönlich sehr enttäuscht mit dem Vorgehen der reichen Länder das Thema Impfungen betreffend. Sie horteten Impfdosen, sie bestellten mehr Dosen als ihre Bevölkerungen benötigen. Sie geben uns nur die Brotkrumen von ihrem Tisch. Die Gier, die sie damit zeigten, war enttäuschend, vor allem wenn sie sagen sie seien unsere Partner. Weil unsere Leben in Afrika sind genauso wichtig wie Leben in Europa, Nordamerika und überall“ (Eigene Übersetzung aus dem Englischen)

Ich bin viel mit Kolleg:innen aus dem Globalen Süden in Kontakt. Ich kann euch versichern: Ramaphosa ist mit dieser Meinung nicht allein.

Aber natürlich hören die globalen Gerechtigkeitslücken in der Pandemiebekämpfung nicht bei der Frage der Impfverteilung auf. Es ist zwar richtig, dass einige Länder im Globalen Süden aufgrund früherer Erfahrungen mit Epidemien wie z.B. Ebola nach dem Ausbruch der Corona Pandemie ein gutes Krisenmanagement hatten. Dennoch fehlt es in vielen Entwicklungsländern an ausreichender öffentlicher Gesundheitsversorgung. In vielen Teilen der Welt sterben leider weiterhin jeden Tag tausende Menschen an Krankheiten, die weitaus weniger gefährlich sind als Covid-19 und relativ leicht behandelbar wären. Die Lage in Konfliktregionen und Kriegsgebieten ist besonders dramatisch. Und das obwohl Art. 25 der allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen besagt, dass jeder das Recht hat „auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet“. Solange solch fundamentale Rechte nicht universelle Gültigkeit haben, dürfen wir nicht aufhören über Gerechtigkeit global zu denken und entsprechend politisch und weltgesellschaftlich zu handeln.

Die Covid-19 Pandemie hat eindrucksvoll gezeigt, was in kürzester Zeit alles möglich und auch notwendig ist, wenn flächendeckend die öffentliche Gesundheit in Gefahr ist und zugleich die Weltwirtschaft ins Taumeln Gerät. Blitzschnell wurden weltweit Milliardenbeträge in die Pandemiebekämpfung und in wirtschaftliche Nothilfen gepumpt. Zugleich dürfen wir dankbar sein, dass es Forscher:innen wie Prof. Şahin und Prof. Türeci gelungen ist, so schnell effiziente Impfstoffe gegen Covid-19 zu entwickeln. Was da geleistet wurde ist phänomenal und dient dem Erhalt der Menschheit im wahrsten Sinne des Wortes.

Dennoch bietet uns die derzeitige öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber Themen der globalen Gesundheit die Gelegenheit einmal kritisch zu hinterfragen, warum nicht auch mehr Gelder in die Bekämpfung von Krankheiten gesteckt werden, die uns hier im Globalen Norden vielleicht nicht unmittelbar betreffen. Rund 40% der Weltbevölkerung lebt beispielsweise in Gebieten, in denen Malaria endemisch ist, sprich zum Alltag gehört. Rund 200 Millionen Menschen erkranken jedes Jahr an Malaria, die meisten davon sind Kinder. Laut der Weltgesundheitsorganisation starben im Jahr 2019 rund 409.000 Menschen an der Krankheit. Ja, öffentliche Gesundheit ist eine Gerechtigkeitsfrage. Und ja, sie muss global gedacht werden.

© Heidi Lorenz

Klimagerechtigkeit

Eine weitere eklatante globale Gerechtigkeitslücke tut sich vor dem Hintergrund des Klimawandels auf. Laut einer Studie von Oxfam und dem Stockholm Environment Institute, verursachten die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung zwischen 1990 und 2015 52% des globalen CO2-Ausstoßes. Die reichsten 1% der Weltbevölkerung waren allein für 15% der Emissionen verantwortlich und haben damit mehr als doppelt so viel CO2 verursacht als die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung.

Zugleich sind aber gerade diejenigen Weltregionen, die am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben, überproportional von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Klimawandel nicht auch bei uns schreckliche Folgen hat. Spätestens seit den tragischen Ereignissen im vergangenen Jahr im Ahrtal und andernorts sollte jedem bewusst sein, welche menschlichen Schicksale und Kosten immer extremere Wetterereignisse verursachen können.

Wenn nun schon ein wirtschaftlich starkes Land wie Deutschland jahrelang damit beschäftigt sein wird, die verwüsteten Städte und Landstriche wieder herzustellen, kann man sich denken, mit welcher Wucht Extremwetterereignisse, steigende Temperaturen und Meeresspiegel oder aber extreme Trockenperioden Länder und Gesellschaften im Globalen Süden treffen. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen von klimabedingten Ernteausfällen, von Desertifikation oder von Wassermangel sind in Staaten, deren Bevölkerungen zu großen Teilen von der Landwirtschaft abhängig sind, natürlich besonders schlimm.

60 Prozent der Menschen in Sub-Sahara Afrika leben beispielsweise unmittelbar von der Landwirtschaft. In diesen Staaten fehlt es an den materiellen und technologischen Ressourcen, um die Folgen des Klimawandels für die Bevölkerung abzumildern. In einigen Inselstaaten im Indischen Ozean und im Pazifik hilft man sich inzwischen damit, Mangrovenwälder vor der Küste zu pflanzen, um die Küstenlinie vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen. Das Vertrauen auf effektive Klimaschutz-Maßnahmen von Seiten der internationalen Staatengemeinschaft, vor allem von den industrialisierten Nationen, ist mittlerweile vielerorts verschwindend gering.

Migration

Der Klimawandel ist inzwischen auch eine treibende Ursache von Migrationsbewegungen sowohl innerhalb als auch zwischen Ländern und Weltregionen. Wo Klimaveränderungen oder Umweltzerstörung das Überleben von Gemeinschaften verunmöglichen, kommt es logischerweise zu Abwanderung. Man darf davon ausgehen, dass dabei die meisten Menschen ihre angestammte Region ungern verlassen. Das gilt nicht minder für Hunderttausende, die vor bewaffneten Konflikten fliehen.

Globale Gerechtigkeitslücken lassen sich teilweise an Migrationsbewegungen ablesen. Es ist jedoch falsch anzunehmen, dass alle Welt nach Europa und vor allem nach Deutschland möchte. Das ist eine Mär, die gerne von der politischen Rechten genutzt wird, um gegen die Schwächsten zu hetzen. Tatsächlich migrieren die überwältigende Mehrheit von Geflüchteten entweder innerhalb oder aber zwischen so genannten Entwicklungsländern. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk haben 2020 86 % der weltweit 82.4 Millionen Geflüchteten Zuflucht in einem Entwicklungsland gesucht – 86%! Die Hauptlast von Flucht weltweit tragen somit Entwicklungsländer – und nicht wir. Auch daran darf man in der politischen Debatte in unserem Lande gerne immer wieder erinnern.

Die Fernsehbilder von traumatisierten und unterkühlten Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze, von zigtausenden in Mexiko gestrandeter Migrant:innen aus Zentralamerika oder aber von Menschen, die alles versuchen Afghanistan zu verlassen, sind verstörend. All diese Menschen wollen in Sicherheit und Würde leben. Eltern wollen eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Wenngleich oft unausgesprochen, konfrontieren uns diese Menschen mit einer legitimen Forderung, nämlich der nach mehr globaler Gerechtigkeit. Vor dem Hintergrund, dass die Weltbevölkerung bis 2050 auf knapp 10 Milliarden Menschen anwachsen wird – allein in Afrika werden dann 2,5 Milliarden Menschen leben – können wir davon ausgehen, dass diese Forderung in den kommenden Jahrzehnten immer lauter werden wird.

Gerechtigkeit global gemacht

Ich habe aber versprochen, mit hoffnungsvollen Bemerkungen zu schließen. Deshalb noch einige Gedanken, die vielleicht besser mit „Gerechtigkeit global gemacht“ überschreiben werden könnten.

Zum einen bedarf es natürlich mutiger und tiefgreifender politische Veränderungen um den von mir skizzierten Herausforderungen und Gerechtigkeitslücken zu begegnen. Erfahrungsgemäß müssen auf internationalem Parkett besonders dicke Bretter gebohrt werden, vor allem wenn Reformen internationaler Institutionen, multilateraler Handelsverträge oder aber Klimaabkommen möglicherweise mächtigen Wirtschaftsinteressen gegenüberstehen.

Ein Beispiel, wo sich jüngst das Bohren dicker Bretter gelohnt hat, ist das im vergangenen Sommer beschlossene internationale Abkommen zur Mindestbesteuerung von Unternehmen. Das von den G20-Staaten verabschiedete Abkommen ist ein wichtiger und hoffentlich nicht letzter Schritt hin zu mehr globaler Steuergerechtigkeit, da es diejenigen, die von einem weitgehend entgrenzten Weltmarkt am meisten profitieren, stärker in die Pflicht nimmt, sich an der Finanzierung des Allgemeinwohls zu beteiligen.

Auch das im vergangenen Jahr beschlossene so genannte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz wird einen Teil dazu beitragen, dass es in Niedriglohnländern, wo ein großer Teil unserer Konsumgüter produziert wird, etwas gerechter zugehen wird. Ähnlich wie beim Klimaschutz ist klar geworden, dass auf Freiwilligkeit beruhende Selbstverpflichtungen der Wirtschaft eben nicht immer funktionieren. Fortan unterliegen alle in Deutschland ansässigen Unternehmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern:innen einer regelmäßigen Sorgfaltspflicht. Diese gilt für bestimmte Menschenrechtsverletzungen sowie Umweltrisiken entlang der Lieferketten. Die Behörden haben weitreichende Vollstreckungsrechte, wenn dieser Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen wird. Allerdings muss sich die Wirksamkeit dieses neuen Gesetzes erst noch in der Praxis beweisen.

Neben pragmatischen Lösungsansätzen dieser Art, die auf ein Mehr an Steuergerechtigkeit oder den Schutz von grundlegenden Menschenrechten und unserer natürlichen Lebensgrundlagen abzielen, brauchen wir aber eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir in Zukunft wirtschaften und leben werden. Fragen globaler Gerechtigkeit müssen zentraler Bestandteil dieser Debatte sein. Leider gibt es meiner Erfahrung nach im politischen Alltagsgeschäft relativ wenig – wahrscheinlich zu wenig – Raum und Zeit, sich mit diesen grundlegenderen Fragen auseinandersetzen.

Dennoch bin ich diesbezüglich verhalten optimistisch. Nicht nur werden in meiner Profession diese Debatten immer lauter und leidenschaftlicher geführt. Es ist vor allem die junge Generation, die in global vernetzten sozialen Bewegungen wie #BlackLivesMatter oder #FridaysForFuture organisiert sind und ein radikales Umdenken sowie eine fundamental andere Art des Wirtschaftens und Zusammenlebens einfordern. Auch wenn es nicht allen dieser jungen Demonstrant:innen vollends bewusst sein dürfte und auch nicht sein muss, viele ihrer Forderungen bedeuten nicht weniger als das Ende des Kapitalismus wie wir ihn heute kennen. Und in der Tat: Vor dem Hintergrund einer weiter rasant wachsenden Weltbevölkerung und zugleich begrenzter natürlicher Ressourcen werden sich globale Gerechtigkeitslücken nur schließen lassen, wenn der Globale Norden bereit ist wirtschaftlich zu schrumpfen. Dies bedeutet nichts weniger als das Abrücken vom Mantra des stetigen Wirtschaftswachstums, das dem Kapitalismus inhärent ist. Für einige von Ihnen mag dies vielleicht utopisch klingen. Auf lange Sicht sage ich Ihnen wird eine post-Wachstums-Gesellschaft aber zur absoluten Notwendigkeit werden.

Auf individueller Ebene können wir bereits jetzt viel dafür tun, um bestehende Gerechtigkeitslücken zu schließen, vor allem über unser Konsumverhalten. Ich bin mir sicher, dass viele von Ihnen und euch schon heute bereit sind, etwas mehr Geld auszugeben, um bewusst fair gehandelte oder klimaneutrale Produkte zu kaufen. In der Gemeinschaft haben wir natürlich einen noch größeren Hebel. Die öffentliche Hand ist in Deutschland und in anderen Industrienationen ist sowohl der größte Einkäufer als auch der größte Auftraggeber. Darauf zu achten, dass nicht nur hierzulande sondern auch am anderen Ende gewisser Liefer- und Wertschöpfungsketten Umwelt- und Sozialstandards eingehalten und gerechte Löhne bezahlt werden, trägt zu einem Mehr an globaler Gerechtigkeit bei. Ich habe mich deshalb gefreut zu hören, dass sich die Uhingerinnen und Uhinger im Rahmen der Lokalen Agenda 21 dafür ausgesprochen haben, dass ihre Stadt eine „Fair Trade Stadt“ werden soll. Erhardt Eppler wäre sicherlich stolz auf Sie und euch. Menschen weit weg von Uhingen, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen verbesserungswürdig sind, werden es euch und Ihnen danken.

In diesem Sinne, wünsche ich uns allen ein gesundes, friedliches und hoffentlich auch global gerechteres Jahr 2022!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

© Heidi Lorenz

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